Das unerklärlich Schöne

Ich als Wand? Ich weiß nicht. Weiß wäre wundervoll - aber was, wenns mal wuseln will, wenns abblättert oder bekritzelt wird? Nein. Da wäre ich kitzelig. Gut, dass ich keine Wand bin.

Aber was, wenn sich im Wuseln etwas löste - oder entblößte, entpuppte oder vorbeiginge - ein Jahr oder ein Jemand - und ein Zeichen hinterlassen wollte? Eine Spur, ein Geheimnis? Zum Entschlüsseln. Oder zum Bewahren.

Die Spur würde das Kind in mir wachkritzeln. Fährten-lesende Sioux schlichen mit mir über einen weißen Waldboden – Hefte von einst erschienen mir - ,Silberpfeil'. Oder ,Bessy' - ein Collie, der noch besser schnüffelte als Lassie. Und in jedem Dezemberheft diese kleine Anzeige, auf die wir alle immer so hippelig gewartet hatten...

...die mit dem kleinen Jungen, der aussah wie wir, genauso gesichtsbemalt am Waldboden hockte, die Finger auf einer kleinen Spur im Schnee, und mit großen Augen uns den schönsten Satz der Vorweihnachtszeit zurief: ,Tigerboy war hier!‘ Und es hallte durch den Tannenwald.

Auf Weiß sehen Spuren immer so geschrieben aus. Eine geheime Botschaft. Wir alle waren dieser Junge - nein, wir alle waren Tigerboy. Und wir konnten Zeichen lesen, damals. Klar, dass diese Schuhe mit dem Relief in der Sohle jedes Jahr ganz oben auf unseren Wunschzetteln standen.

Mit den Zeiten ist sie mürbe geworden, diese Farbe. Reines Weiß kenne ich gar nicht mehr. Vielleicht weckt sie das Kinderherz in mir, weil ich mir keine offenere vorstellen kann. Offener für jede Spur, die da kommen will.

Und weil man sie nicht anfassen muss, um sie zu begreifen, diese empfindsame, so verletzbare, aber doch kraftvolle Farbe

Auch weil sie mich ans Lichte denken lässt, an Beleuchtung und Belichtung – daran, dass Fotografie mit Licht sogar zeichnen kann, schreiben. Welches Medium kann das schon. Und was können Bilder Besseres leisten, als unter Abblätterndem leuchtende Botschaften hervor zu zeichnen

Damit wir klarer fühlen lernen, was wir weltweit uns eigentlich nur selbst zufügen. Mit Kunst schauen wir genauer hin: Was will wirklich heraus, wenn etwas abblättert? Was häutet sich da? Vielleicht ist das der Sinn des Abblätterns. Die Botschaft im Gekritzel - warum sind wir da bloß so kitzelig?

Gute Bilder können die Melancholie des Loslassens mit der Freude übers Aufleuchten verschwistern. Sie können Vanitas leben, loben und Fährten des Glücks schon jetzt nach vorne legen. Voraus in Richtung Frieden. Nach dem sehnen sich ja alle. Überall, andauernd, wieder mal - und immer noch. Nur: Draußen finden wir sie sicher nie, die guten Bilder.

Verfolgen wir sie mit der Weisheit unserer Bilderlust. Wie gut, dass wir das Schöne so unerklärlich mögen! Schöne Themen an schönen Orten - vielleicht sind sie ein erster Schritt für eine Schau nach innen. Vielleicht ist man da dann irgendwann auch nicht mehr so kitzelig....