Kunst und Frieden

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Privilegien zum Schein

Meist irgendwo weit weg, mittlerweile in unserer Nachbarschaft, finden kriegerische Tragödien statt, deren Ende immer weniger abzusehen ist. Die bisherige Sicherheit in unserer Region scheint eine Art Privileg – allerdings eines, das mir ausgesprochen zweifelhaft, möglicherweise unverdient vorkommt. Unmittelbar betroffen müssen wir uns derzeit vielleicht nicht fühlen, zumindest noch nicht - aber sind Privilegen nicht immer mit einer besonderen Verantwortung verbunden?

Fragen wie diese beschäftigen mich seit Langem, und Antworten finde ich weder in den aktuellen politischen noch militärischen Positionen, die in den Medien ständig diskutiert werden.

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Ver-Antwortung übernehmen

Die ,Ver-Antwortung‘, einen Konflikt zu beenden, habe allein ein Aggressor, heißt es immer wieder, und das Argument klingt verständlich. Gerecht wirkt es aber nur auf den ersten Blick. Denn: Hat so ein Satz wirklich die intellektuelle Größe einer selbstbewussten Kultur von Dichtern und Denkern, um auf eine Katastrophe antworten zu können, die sich gerade direkt vor ihren Augen abspielt?

Ein Meer an Fragen tut sich auf: Geben wir mit einer eindimensionalen ,Wir-haben-keine-Schuld‘-Haltung nicht Kräfte ab, intellektuelle wie zwischenmenschliche? Nämlich die, mit denen man kluge, vielleicht weise Antworten finden könnte, die ethisch haltbar sind und zudem die gesamte Konfliktlage im Blick halten, ihre umfassenden Ursachen und konkret benennbare Auswege?

Reicht unser Konfliktverständnis wirklich nicht weiter, als uns auf die Schuld des Anderen zu verlassen? Gerade dann übrigens, wenn der es umgekehrt genauso sieht?

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Systemisch denken

Müsste die Suche nach einem dauerhaften Frieden nicht die nach einem rational durchdachten Lösungskonzept sein? Und darf man ohne so ein nachhaltiges Konzept überhaupt auf Menschen schießen? Selbst wenn die andere Seite angefangen hat? Es hat ja immer die andere Seite angefangen - wir kennen das von früher. Aus der Sandkiste.

Ich denke, gerade wir, die wir hier wohl noch in Sicherheit leben, können gar nicht umhin zu versuchen, eine Antwort zu finden auf die tragischen Zusammenhänge, die die Katastrophe insgesamt haben geschehen lassen und: sie immer noch am Laufen halten.

Genau diese Idee der ,Bereitschaft zur Antwort‘ steckt für mich in dem Begriff ,Ver-Antwortung‘. Für mich hat Verantwortung übernehmen mit Schuld oder Kapitulation nichts zu tun. Die Bereitschaft zu Verantwortung ist ein Beitrag aus der Meta-Ebene, systemisch und direkt lösungsorientiert.

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Mit Bösem gegen das Böse

In endlosen Diskussionen schlagen sich Viele von uns auf eine Seite und meinen sehr schnell, das eigene Gewissen mit fertigen Antworten entlasten zu können. Wir wissen offenbar fast alle, wer Schuld ist und wer siegen soll, und beschränken unser Urteil gern darauf. Dieses Zuschieben von Verantwortung an den Anderen geschieht auf beiden Seiten gleichermaßen. Spiegelgleich mit derselben Verve.

Resultat sind die verheerenden Kräfte, die beide Seiten aus der Analogie ihrer Haltungen entwickeln. Mit derselben Rhetorik, den absolut selben Diffamierungen, Disqualifizierungen und Drohgebärden. Ergebnis: Traumata, die unkontrolliert wachsen und sich festsetzen. Seit Jahren, teils Jahrzehnten.

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Ich und du

Wie kann es möglich werden, die Verbindungen in den gegenüberstehenden Positionen sinnfällig fühlbar zu machen? Wie kann man daraus einen umfassenden Überblick aufs Ganze werden lassen? Wie eine Ebene öffnen, die die gesamten Zusammenhänge über die in den Leitmedien immer wieder und ständig präsente militärische Thematik hinaus erweitert?

Warum müssen es ausgerechnet Planspiele über Marschflugkörper sein, bei denen sich westliche Luftwaffenoffiziere von östlichen Geheimdiensten abhören lassen, nicht aber bei Ideenfindungen für den Frieden? Warum werden Menschen disqualifiziert, die dafür eintreten, Ideen für den Frieden nicht weniger intensiv zu diskutieren als Ideen für Waffenlieferungen? Wo sind wir darin?

Wo ist sind Intelligenz, Intellekt und Fantasie, um die wir uns bei Strategiespielen zuhause offenbar stärker bemühen als bei der Suche nach internationalen Konfliktlösungen? Wo ist das Konstruktive, die Weitsicht und Klarheit, die wir unseren Kindern nahelegen, wenn sie ihre ersten Konflikterfahrungen mit anderen machen? Lässt sich historisch nicht eindeutig belegen, dass Gewalt es noch nie geschafft hat, Gewalt zu besiegen?

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Überwindung des Primatentums

Die von uns gewählten Entscheidungsträger spiegeln wider, was wir sind – und dazu zählt all das, was uns gemeinsam kultiviert hat, auch Kunst und Geisteswissenschaften. Humanistische Kultur ist das, was seit je unerbittlich nach dem Guten fragt und dafür zu verbinden sucht, was einander fremd erscheint. Damit neuen Sichtweisen die alten weiterentwickeln können.

Fällt uns da noch immer nichts Tiefsinnigeres ein als die uralte Logik von Waffenlieferungen und antiker Kriegsrhetorik? Ist aus Sicht der Klinischen Psychologie dieser kulturelle Rückfall ins Archaische nicht die typische Symptomatik einer narzisstischen Störung? Und zwar auch auf Seiten des Verteidigers?

Wenn narzisstische Störung mit Macht zusammenkommt, entsteht das Gefährlichste, was ich mir auf zwischenmenschlicher Ebene vorstellen kann. Und zwar beidseitig. Der mittlerweile in fast allen aktuellen staatlich organisierten Brutalitäten bemühte Ausdruck ,Kriegsverbrechen‘ scheint mir vollkommen obsolet, einfach weil er suggeriert, dass es Kriege geben würde, die keine verbrecherischen Tragödien sind.

Mir scheint, als würden wir unseren Kindern, wenn sie in der Sandkiste oder auf dem Schulhof ihre natürlichen Konflikterfahrungen machen, in allem Eifer genau das vormachen, was wir ihnen untersagen wollen: das archaische Recht des längeren, dickeren und schwereren Hebels. Und zeitgleich erzählen wir ihnen, dass die Krone der Schöpfung durch Zivilisation und Kultur das Primatentum überwunden habe.

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Bessere Fragen finden

Wir brauchen bessere Fragen. Fragen, die jeden von uns in der eigenen Tiefe berühren. Fragen, deren Güte sich daran bemisst, wie lange sie uns innehalten lassen. Und wie sehr sie uns verunsichern. Dass der übliche Diskurs zusehens versagt, kann uns vielleicht ermuntern, einen Schritt zurückzutreten und erstmal den Mund zu halten.

Vielleicht muss es nicht gleich um das Große und Ganze gehen, das überblickt gerade in schweren Krisen, also in Zeiten der Wandlung, ohnehin keiner. Vielleicht geht es erstmal um jeden Einzelnen von uns.

Vielleicht werden wir eben nicht auf der Seite fündig, der wir die Schuld zuschieben, sondern bei der Delphischen Frage Wer sind wir? Wer bin ich, wer ist meine Spezies? Wo ist meine Suche und wo das, wonach ich suche? Wo die unparteiische Suche nach der Friedfertigkeit in mir?

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Der Nucleus

Geeignet scheint mir dafür nicht das Wort. Nicht das Argument. Zu schnell würden wir im Diskurs alles Schattenhafte von uns weisen. Zu schnell fielen uns Argumente ein, warum nicht wir der Schatten der Geschicke sind, sondern der Andere. Wir sehen uns lieber in dem Licht, das wir dem Anderen absprechen.

Geeignet für eine echte Innenschau scheint mir eine vollkommen andere Ebene. Eine Versinnlichung. Sichtbar, hörbar, zurückhaltend, schweigsam. Ein Bild, ein Geräusch. Oder ein Nichts. Ein Noch-nicht oder Nicht-mehr.

Kunst hat ein anderes, ein öffnenderes und vielschichtigeres Potenzial als die einseitigen und so unselig eng gefassten Positionen aus Politik und Militär. Ich kenne nichts, was das Singuläre, Individuelle mit dem Universellen, also mit dem Großen und Ganzen so frei verschwistern kann wie eine künstlerische Erfahrung.

Vielleicht brauchen wir Prozesse, die unsere Betroffenheit in energetische Formen transformiert, die Tore öffnen können. Tore, auf die wir eben keine Feindbilder mehr projizieren, weil sie uns selbst spiegeln und gerade dadurch herausfordern – hineinlocken in den überraschend zerbrechlichen Kern der eigenen Friedfertigkeit.

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Was kann Kunst schon ausrichten?

Eine tolle Frage. Wer sie ernsthaft stellt, hat das Tor zumindest schon einen Spalt breit offen. Erkenntnistheoretisch genießen die Freien Künste unschätzbare Privilegien. Sie können es sich erlauben, selbst riesigen Hürden, vor denen der Verstand scheitert, rein sinnlich zu begegnen – sie dürfen dies nicht nur, sie müssen es. Denn: Privileg und Verantwortung sind phänomenologische Geschwister.

Und sie können es. Kunst hat primär ja nicht die Aufgabe, Antworten oder fertige Lösungen zu liefern. Sie darf – wie die antike Philosophie: einfach nach Fragen forschen, die besser als die offensichtlichen sind, um genau dadurch schöpferische Impulse ins Dasein zu setzen.

Manche spirituellen Vorstellungswelten lehren, dass diese besseren Fragen längst in uns verborgen fließen würden, wir müssten uns nur an sie erinnern. Man kann das glauben oder nicht. Aber genau diese Weite, diese Tiefe und Höhe, die Kunst öffnen kann, all das ist ihr ureigenes Potenzial. Nur dann sind Werke und Prozesse der Kunst nicht bloß Privatvergnügen, sondern ein anthropologisches Grundnahrungsmittel, also relevant für alle.

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Nachfühlen, nachsinnen und ästhetisch denken

In der Kunst sehe ich das Schöpferische untrennbar mit Intuition und Gefühl verbunden. Schweigsame Introspektion blüht zur Grundlagenforschung auf. Was wäre, wenn man sich auf Reisen begäbe, wenn Projekte entstünden, die jeden von uns in sich selbst hineinhören lassen?

Was wäre, wenn man sich zusammentäte, sich in die Augen sehen würde? Sich gegenseitig wahrnehmen, die Wahrheiten des Anderen annehmen, ihn an der eigenen teilhaben lassen und gemeinsam die Zeit spüren, die man sich dabei nähme und ließe?

Was, wenn wir uns als natürliche ,Gegenübers‘ erfahren und gerade am Anders-Seienden schöpferisch werden könnten? Insbesondere wenn in der Dissonanz sich unser Gegenüber in einen Gegner zu verwandeln schiene, dahinter aber genau die Bedürfnisse und Ängste, Freuden und Fragen spüren ließe, die uns allen so herzlich gemeinsam sind? So gemeinsam wie der Impuls, den eigenen Schatten auf die andere Seite zu projizieren?

Uns im Anderen suchen, uns selbst im Gegenüber schauen, erforschen, gerade in unseren Gegnern, also denen, die uns Kontur verleihen, ginge das?

Wo sonst sollte das möglich sein als an unseren Grenzen, also genau den Linien, die uns persönlich umzeichnen und fürs Gegenüber erkennbar machen? Wo sonst sollten Kunstwerke entstehen können, die uns genauso viel Halt geben können wie Mut?

Können wir den Mut zur Friedfertigkeit wirklich der anderen Seite überlassen?